Das allgemeine Frauenwahlrecht wurde in Deutschland nach dem großen Krieg im Jahre 1918 eingeführt. Das weiß eigentlich jeder. Und jeder weiß, dass das viel zu spät war. Jeder weiß, dass dem eine jahrhunderte-, ach was: jahrtausendelange Unterdrückung der Frau durch den Mann vorausging. Und jeder weiß, dass es nur mutigen Frauenrechtlerinnen des Feminismus der Ersten Welle zu verdanken ist, dass sich das dann endlich geändert hat.
Nun, ich möchte deren Bedeutung keineswegs kleinreden. Ich halte den Feminismus der Ersten Welle, oder die Frauenrechtsbewegung, als die ich sie in diesem Zusammenhang lieber bezeichne, für eine absolut wichtige gesellschaftliche Errungenschaft. Ich würde nicht in einer Gesellschaft leben wollen, in der Männer und Frauen unterschiedliche Rechte zugesprochen bekommen, einfach so, qua Geburt. Daher bin ich diesen Frauen – und auch den Männern, wie August Bebel oder Friedrich Lassalle – uneingeschränkt dankbar.
Aber dieses Narrativ, das ich oben beschrieben habe; Nun, an das kann nur glauben, wer über ein anderes Thema wenig weiß; ein Thema, über das denn auch auffallend viel geschwiegen wird. Dabei liegt die Frage doch eigentlich auf der Hand: „Sag mal, wir wissen ja nun, wie das mit dem Frauenwahlrecht war. Aber wie war denn das eigentlich mit dem Allgemeinen Männerwahlrecht?“
Das erste allgemeine Männerwahlrecht in Deutschland wurde 1869 im Norddeutschen Bund unter preußischer Führung eingeführt, ab der Reichsgründung 1871 galt es deutschlandweit. Also keine 50 Jahre, ein Wimpernschlag in der Weltgeschichte, vor dem Frauenwahlrecht. Dies galt aber nur auf Bundesebene; auf föderaler Ebene – die bekanntlich in der deutschen Politik auch eine wichtige Rolle spielt – galten oft weiterhin die vorherigen (ungleichen) Wahlgesetze, so zum Beispiel Pluralwahlrechte, nach denen einige Wähler mehrere Stimmen abgeben konnten, oder das Preußische Dreiklassenwahlrecht. Dieses teilte die Wahlberechtigten (Empfänger öffentlicher Armenvorsorge waren davon z.B. ausgeschlossen) in drei Abteilungen gemäß ihrem Steueraufkommen ein. Die erste Abteilung umfasste die reichsten Bürger, die zusammen ein Drittel des Steueraufkommens ausmachten, die zweite Abteilung die Zahler des zweiten Drittels und der ganze Rest, der nur geringe Steuern zahlte, fand sich in der dritten Abteilung wieder. Jede Abteilung stellte gleich viele Abgeordnete. De Facto sorgte dieses Wahlsystem für eine massive Überrepräsentation einer wohlhabenden Minderheit. In gut einem Zehntel aller Wahlbezirke gab es nur einen einzigen Wähler, der zur ersten Abteilung gehörte und somit allein über den Vertreter seines Bezirks bestimmen konnte. Auch in den restlichen Wahlbezirken gehörten nur selten mehr als eine handvoll Wähler zu dieser Abteilung. Und selbst in der zweiten Abteilung kam es mitunter vor, dass es nur einen einzigen Wähler gab.
Und was wählten diese Wähler dann? Sie wählten die Zweite Kammer des Abgeordnetenhauses, die wiederum der Ersten Kammer untergeordnet war. Anfangs hatte sie lediglich beratende Funktion. Dass sie selbst das Recht hatte, mitzuentscheiden, wurde erst im Laufe der Zeit erreicht. Die Erste Kammer war übrigens dem Adel vorbehalten. Dieses Wahlrecht – übrigens: nicht geheim – galt in Preußen bis 1918.
Wir sehen also: Weder gab es das Allgemeine Männerwahlrecht lange vor dem Frauenwahlrecht, noch hatte es sich vorher vollumfänglich durchgesetzt. Auch einige Männer waren bis 1918 davon ausgeschlossen; und die, die es nicht waren, hatten oft trotzdem kein Wahlrecht, wie wir es heute verstehen: geheim, gleich und unmittelbar.
Natürlich kann man jetzt anführen: Aber immerhin hatten sie doch eins, die meisten zumindest! Und ja, das stimmt. Obwohl das Wahlrecht nicht unseren heutigen Vorstellungen entspricht, war es natürlich ungerecht, die Frauen einfach nur deswegen davon auszuschließen, weil sie Frauen waren. Für die Empfänger der Armenvorsorge gab es ja doch zumindest theoretisch irgendwie die Möglichkeit, zu Einkommen oder Wohlstand zu kommen und damit das Wahlrecht zu erlangen; Anders als heute konnte eine Frau damals aber nicht mal eben zum Mann werden.
Bis jetzt haben wir uns allerdings nur mit dem „was“ der Geschichte beschäftigt – nicht mit dem „wie“ und nicht mit dem „warum“. Doch auch diese sind erhellend.
Bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts gab es in Deutschland überhaupt keine Parlamente. Und es gab auch kein Wahlrecht. Freilich, der Kaiser wurde von den Kurfürsten gewählt; Aber das hat ja nun mit dem, worum es hier geht, so gut wie gar nichts zu tun. Zumal der Kaiser in seiner Funktion als Kaiser auch quasi gar nichts zu sagen hatte; ein Grüßaugust, darin dem heutigen Bundespräsidenten nicht unähnlich.
Was passierte denn also nun am Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts, dass sich das plötzlich änderte? Hier gibt es drei ganz wesentliche Faktoren, die den Lauf der Geschichte in ungeheurem Ausmaß prägten. Ja, es gibt keine andere Periode, die den Lauf der Dinge so nachhaltig änderte wie diese. Ohne jeden Zweifel wäre ohne diese drei Ereignisse heute kaum etwas so, wie es ist:
- Die Aufklärung
- Die Industrielle Revolution
- Die Französische Revolution, und in ihrer Folge: Die Napoleonischen Kriege
Wie die drei zusammenspielten und im einzelnen zur Einführung parlamentarischer Repräsentation führten, würde hier viel zu weit führen und das brauchen wir in diesem Kontext auch nicht allzu genau zu wissen. Daher mache ich es so kurz wie möglich und beschränke mich auf die für unsere Zwecke zentralen Aspekte.
Mit der Industriellen Revolution ging eine zuvor nie dagewesene Urbanisierung einher. Ganze Völkerscharen strömten vom Land in die (teils neu entstehenden) Städte auf der Suche nach Arbeit. Die Geschichte des Ruhrgebiets steht dafür geradezu idealtypisch. Die Städte, die es bis dahin gegeben hatte, waren deutlich kleiner gewesen und verdankten ihre Bedeutung zumeist einem Fürstensitz oder in selteneren Fällen – wie Leipzig oder den Hansestädten – einer unabhängigen, wohlhabenden Klasse von Kaufleuten. Nun entstanden riesige Industriestädte mit einem immensen Bedarf an Arbeitskräften – und allerlei Problemen, die das Zusammenleben vieler Menschen auf kleinem Raum mit sich bringt: Hygiene und Krankheiten, Wasserversorgung und Abwasserentsorgung, Kriminalität, Verwahrlosung und große Armut usf. Die soziale Frage entstand. Und mit dieser Urbanisierung erfolgte der Eintritt der Massen in die Weltgeschichte.
Bis dahin hatten die Menschen verstreut auf dem Land gelebt. Wer gerade politisch den Hut auf hatte, betraf sie relativ wenig – und sie hatten dabei ja auch nichts zu sagen. Politik war im wesentlichen das Privatvergnügen einer kleinen adeligen Elite. Mit dem Aufkommen neuer sozialer Probleme änderte sich das nun. Und an dieser Stelle kommen, gerade im deutschen Kontext, die Napoleonischen Kriege ins Spiel, insbesondere die Koalitionskriege.
Krieg war immer ein Kontinuum deutscher Geschichte gewesen – und europäischer Geschichte überhaupt. Und natürlich war auch das einfache Volk davon betroffen. In weiten Teilen des Reiches galt die Devise: Der erste Sohn bekommt den Hof, den zweiten bekommt die Kirche, den dritten bekommt der Krieg. Und die soziale Ordnung hat natürlich viel mit dem Erbrecht zu tun; Die feministische Forschung hat nicht unrecht damit, wenn sie betont, dass die Unterdrückung der Frau mit dem Vorzug der Söhne vor den Töchtern zu tun hat. Allerdings war der zweite und spätestens der dritte Sohn dem ersten gegenüber im Grunde genauso benachteiligt wie die Töchter. (Ausgenommen davon ist der Südwesten, wo es üblich war, das Ackerland zu ähnlichen Teilen zwischen den Söhnen aufzuteilen.) Anders als diese hatte er aber nicht die Möglichkeit, einen erbberechtigten Sohn aus anderem Hause zu heiraten. Er musste selbst für sein Auskommen sorgen. Wie gesagt: Die überwältigende Mehrheit der Menschen lebte damals auf dem Land, und dort war das Auskommen ans Land gebunden. Wer kein Land hatte, das er bewirtschaften konnte, der hatte Pech gehabt. Da blieb nur der Eintritt ins Kloster – oder eben in die Armee. Und so fanden sich dort diejenigen wieder, die sonst nichts zu erwarten hatten vom Leben. Somit hatten die Soldaten – abgesehen von der kleinen adeligen Führungselite – ein miserables gesellschaftliches Ansehen. Sold gab es auch keinen, der Soldat erhielt Kost und Logie. Wer zum Militär ging, der war für die Gesellschaft verloren, galt als verroht und unzivilisiert und starb ohnehin früher oder später. Meist nicht den Heldentod auf dem Schlachtfeld – ein Konzept, das ohnehin eher der besagten Führungselite vorbehalten war – sondern einen dreckigen Tod im Schatten der Geschichte. Zu dieser Zeit starb die weit überwiegende Zahl der Soldaten nicht durch feindliche Kugeln, sondern durch Krankheit, unbehandelte Verletzungen und die allgemein katastrophalen hygienischen Zustände. Dies änderte sich erst durch die Gründung des Roten Kreuzes nach der Schlacht von Solferino 1859.
Mit den Koalitionskriegen aber änderte sich die Art der Kriegsführung. Die Heere Napoleons waren mit Abstand die größten, die bis dahin jemals den Kontinent heimgesucht hatten. Ihr militärischer Erfolg war kein Zufall. Um gegen sie zu bestehen, mussten auch die deutschen Staaten massiv aufrüsten. Der Bedarf an Soldaten war enorm. Erstmals wurde daher so etwas wie eine allgemeine Wehrpflicht eingeführt – eine allgemeine männliche Wehrpflicht, versteht sich. Und so waren es in den Koalitionskriegen erstmals nicht mehr nur die Ausgestoßenen und Hoffnungslosen, die ihr Leben für ihren Fürsten gaben. Dies hatte Folgen, die seinerzeit nicht abzusehen gewesen waren. Denn es stellte sich natürlich die Frage: Wenn ich für diesen Staat Leib und Leben riskieren soll und dafür noch nicht einmal einen Sold erhalte – ja, was habe ich denn davon?
Und damit erhielten zwei Ideen Auftrieb, die bis dahin nur gelehrte Gedankenspiele gewesen waren. Zum einen die Idee der Nation – „Wir, die Deutschen, müssen uns, unsere Kultur, unsere Werte gegen die fremden Invasoren verteidigen“ (man vergleiche auch Friedrich Wilhelm II [1914]: „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche!“) – und zum anderen die Idee des Wahlrechts – „Wenn ich schon mein Leben riskieren soll, dann will ich wenigstens mitreden dürfen, wofür ich es riskiere“. Beide Ideen waren letztlich unwiderstehlich.
Und damit kommen wir zurück zum Ausgangsthema. Die Einführung des Wahlrechts ist historisch untrennbar verknüpft mit der Einführung der Wehrpflicht. Nur durch die Wehrpflicht entstand eine Bewegung, die letztlich, nach jahrzehntelangem Kampf, die Einführung des Wahlrechts zur Folge hatte. Und zwar mit der denkbar simplen Begründung: Wer sein Leben für den Staat gibt, der muss auch mitreden dürfen.
Und deswegen war das allgemeine Wahlrecht ein allgemeines Männerwahlrecht: Weil die allgemeine Wehrpflicht eine allgemeine Männerwehrpflicht war. So ungerecht der Ausschluss der Frauen vom Wahlrecht auch erscheinen mag; Er war dermaßen offensichtlich begründet, dass es gar kein Wunder ist, dass sich erst ein paar Jahrzehnte später eine Bewegung formierte, die diese Gründe nicht mehr so genau kannte und darin eine Ungerechtigkeit sah. Gleichwohl gab es auch viele Frauen, die das Frauenwahlrecht ihrerseits ablehnten, weil sie sich der Gründe nämlich sehr wohl bewusst waren. Sie fürchteten – konsequenterweise – dass mit dem Frauenwahlrecht auch eine Frauenwehrpflicht einhergehen würde. Und diesen Handel wollten sie – verständlicherweise – nicht eingehen.
War es also ungerecht, dass die Frauen kein Wahlrecht hatten? Vom heutigen Standpunkt aus betrachtet: sicherlich. Unter Berücksichtigung der Vorzeichen der damaligen Zeit: Ich tendiere zu nein.
In diesem Beitrag habe ich mich ausschließlich mit der deutschen Entwicklung beschäftigt, und meine Aussagen beziehen sich auch nur auf diese. Ähnlich wie in den deutschen Einzelstaaten war beispielsweise das Wahlrecht im Vereinigten Königreich zwar ausschließlich männlich, aber auch an das Vermögen gebunden. So hatten de-facto selbst in diesem Mutterland der modernen Demokratie bis ins frühe 19. Jahrhundert nur etwa 1% der Männer das aktive Wahlrecht. Sukzessive erhöhte sich diese Zahl durch Reformen bis 1918 auf 52% der Männer. Natürlich war der Ausschluss der Frauen ungerecht; Genauso ungerecht war aber der Ausschluss von 48% der Männer. Dieser Teil der Geschichte ist aber heute kaum mehr bekannt. Was die USA anbetrifft, so erinnere ich mich an eine Aussage im Rahmen einer Vorlesung zur Politischen Ideengeschichte der USA, wonach dort bis heute Männer nur dann wahlberechtigt sind, wenn sie sich auch beim Militär eingeschrieben haben, was für Frauen selbstredend nicht gilt. Die Verknüpfung von Wahlrecht und Wehrpflicht wäre dort entsprechend also bis heute vorhanden – zumindest bei Männern. Ich kann dazu aber leider keine Literatur finden, und vielleicht irre ich mich auch und das wurde vor einiger Zeit geändert. Daher möchte ich mich darauf nicht festlegen.
Wie dem auch sei: Auch in Bezug auf andere Länder wäre eine spezifische Betrachtung der Wahlrechtsentwicklung in diesem Kontext sehr spannend. Und ich bin mir sicher, dass man vielerorts, wenn nicht überall, herausfinden würde, dass es nicht so einfach ist, wie es heute oft dargestellt wird.
#1 von D Bernard Model am 6. Juli 2019 - 10:16
Interessanter Artikel! Eine Anmerkung „Friedrich Wilhelm II [1914]: „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche!“)“ ist falsch, gesagt hat das Wilhelm II.