Heute nur ein kurzer, gefühlsgeleiteter Beitrag:

Ich habe einen guten Bekannten. Momentan ist unsere Beziehung nicht gut. Ich bin mir sicher, dass er psychische Probleme hat, eventuell sogar gepaart mit einer Suchtproblematik. Ich mache mir echt Sorgen um ihn. Jedenfalls googlete ich gerade nach „Männertherapie [Stadt]“. Einen passenden Therapeuten fand ich nicht. Was fand ich stattdessen, gleich auf der ersten Seite?

Eine Publikation der hessischen Landesregierung, genauer gesagt von der Landeskoordinierungsstelle gegen häusliche Gewalt. Titel: Wegweiser für die Beratung von Männern mit Gewaltproblemen. Es geht um den Dreiklang Männerberatung – Gewaltberatung – Täterberatung.

Da sucht man also nach Angeboten, die einem lieben Bekannten helfen könnten, und was findet man? Ein regierungsamtliches Schreiben, das Männer nicht als Wesen mit eigenen Sorgen, eigenen Problemen, eigenen Hilfsbedürftigkeiten ansieht, sondern auf die Ursache von Sorgen, Problemen und Gewalt reduziert. Hilfe gibt es nicht für den Mann, weil er Hilfe braucht, sondern weil er zum Problem für andere geworden ist. Solange er seine Probleme mit sich selbst ausmacht, solange er arbeitslos wird, trinkt, kifft, spielt, sich das Leben nimmt, interessiert er nicht. Er muss schon schlagen, damit er Hilfe bekommt. Dass man so Gewalt nicht bekämpft, sondern sie vielmehr fördert, scheint noch niemandem aufgefallen zu sein.

Ich bin echt enttäuscht von dieser Unmenschlichkeit.

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Die Gerechtigkeit und ihre heimlichen Feinde

Irgendwann war da dieser Moment, in dem mein Glaube erloschen war. Der Glaube daran, dass der Feminismus wirklich die Gleichberechtigung der Geschlechter will. Oder andersherum: Der Glaube daran, dass diejenigen, die sich heute als Feministinnen ausgeben, wirklich Feministinnen sind.

Prolog

Ich stamme aus einer ziemlich einfachen Familie. Meine männlichen Vorfahren waren zum Beispiel Kraftfahrer, Bahnarbeiter, Stellmacher oder Bergmänner, die weiblichen meist Hausfrauen, oft mit einem Nebenverdienst als Kellnerin, Näherin oder Erntehelferin, weil das Geld sonst einfach nicht gereicht hätte. Und zu einem gewissen Grad waren sie bis weit in die Nachkriegszeit hinein alle Selbstversorger: mit einem Obst- und Gemüsegarten und einem Stall mit ein paar Hühnern und einem Schwein. Die klassische Klientel der SPD also.

Und soweit ich weiß, waren sie nie besonders politisch, haben aber alle immer SPD gewählt. Denn die stand ja für die kleinen Leute ein. Bis dann irgendwann die Grünen kamen, die auch hin und wieder mal eine Stimme aus meiner Familie bekommen haben dürften. Und so wurden auch mir von kleinauf sozialdemokratische Werte vermittelt. Gerechtigkeit spielte eine große Rolle. Das war keine komplizierte, hochtrabende Philosophie, sondern intuitiv verständlich und universell anwendbar. Dazu gehörten so Gedanken wie: Die Menschen sind verschieden, aber sie sind alle gleich viel wert. Behandle Frauen mit dem gleichen Respekt, mit dem du auch Männer behandelst. Schließe nicht vom Aussehen eines Menschen auf seinen Charakter. Mach dich nicht über schwächere lustig. Lass andere ausreden. Stell dich hinten an; und so weiter und so fort. Im Grunde lässt sich das mit dem einfachen Satz, „Was du nicht willst, das man dir tu‘, das füg‘ auch keinem ander’n zu“, zusammenfassen. Das ist so simpel, dass man es im Grunde auch als gesunden Menschenverstand bezeichnen kann. Und der wurde nicht mit abstrakten Vorträgen erklärt, sondern der wurde vorgelebt. Und weil das alles so eine schöne Einheit bildete, wuchs ich auch in dem Verständnis auf, dass dieser gesunde Menschenverstand und die SPD zusammengehören (und das taten sie ja lange Zeit auch). Und deswegen verstand ich mich natürlich auch als Sozialdemokraten.

Und als ich dann anfing zu studieren, schaute ich natürlich auch mal bei der örtlichen Hochschulgruppe der Jusos vorbei. Einmal. Danach nie wieder. Und fortan entfremdete ich mich immer weiter von der SPD und vom linken politischen Denken im Allgemeinen. Ich hatte den Eindruck, dass mein Gefühl für Gerechtigkeit, das, wovon ich dachte, dass es doch eigentlich so selbstverständlich, einfach zu befolgen und universell gültig sei, dort nicht mehr zu Hause ist. Stattdessen wurden andere, unsichtbare soziale Regeln befolgt, es wurden komplizierte Theoreme gewälzt, die am Ende doch alle nur darauf hinausliefen, zu begründen, warum es gerade nicht gerecht ist, alle gleich zu behandeln, sondern warum manche Tiere eben gleicher sind als andere, um es mit Orwell zu sagen.

Nun bin ich ein neugieriger und selbstkritischer Mensch. Deshalb wollte ich diese Theoreme verstehen, weil ich auch dachte: Na vielleicht ist ja etwas dran, und ich habe es nur nicht verstanden. Und so studierte ich nun acht Jahre lang an diesen Konzepten herum. Und ich verstehe sie mittlerweile sogar. Allein: Ich halte sie für den gleichen Unsinn, für die ich sie am Anfang gehalten habe. Und eine große Rolle spielten dabei zeitgenössische feministische Konzepte.

Beispiel

Neulich sah ich auf Facebook die Statusmeldung einer jungen Frau. Die ging so:

Beim Zahnarzt. Männlicher Patient beim Verlassen des Behandlungsraumes zur Zahnarzthelferin: „Ich komme ja eigentlich nur wegen der schönen Frau her.“ Man reiche mir eine Kotztüte.

Jemand machte den Fehler, zu bezweifeln, dass es sich dabei um eine Schilderung von furchtbarem Sexismus handelte, woraufhin ein Shitstorm über ihn hereinbrach. So hieß es von der Dame unter anderem:

Ah, verstehe. Mann weiß eben besser, wie Frau sich fühlt. #mansplaining sei dank!

Diese Ansicht ist ja im zeitgenössischen Feminismus, vor allem dem Netzfeminismus, ziemlich weit verbreitet: Ein Mann habe gefälligst bei allem was er tut und sagt erstmal abzuwägen, wie sich an- und abwesende Frauen damit fühlen könnten und es dann gegebenenfalls zu unterlassen. Darum geht es hier. „Buhuuu, dieser Mann hat etwas gesagt, was mir nicht gefällt und meine Gefühle waren ihm dabei vollkommen egal!“ Und dann geht Frau online und beklagt sich darüber bei ihren Peers. Eine ziemlich passiv-aggressive Vorgehensweise, hätte sie doch einfach betreffenden Mann darauf ansprechen können, dass ihr sein Spruch missfällt. Nein, das ganze Internet soll wissen, dass es da draußen böse Menschen (Männer!) gibt, die etwas sagen, ohne dabei an ihre Gefühle zu denken!

Aber an irgendwas erinnert mich das doch… Ja, richtig! Dieses uralte Cliché, demzufolge Frauen so emotional seien, dass Männer ständig Rücksicht auf ihre Gefühle nehmen müssten, und dass sie deswegen politisch und wirtschaftlich zu nichts zu gebrauchen seien! Gottseidank gab es ja die Frauenrechtlerinnen der ersten und zweiten Welle des Feminismus, die mit diesem Cliché aufgeräumt haben. Deswegen haben Frauen heute das Wahlrecht, sitzen im Parlament, werden Ministerin und Bundeskanzlerin, gehen arbeiten und werden Chef. Ist doch eigentlich erledigt, oder? An dieses Cliché glaubt doch heute kein Mensch mehr, oder?

Und nun kommt da eine Gruppe von Frauen, Feministinnen gar, die genau das einfordern: Dass Mann doch bittegefälligst bei allem und jedem Rücksicht auf ihre Gefühle zu nehmen hat! Hatten Feministinnen nicht einmal dafür gekämpft, genau diesen Blödsinn zu überwinden?

Das gleiche Prinzip lässt sich übrigens auch bei anderen zeitgenössischen feministischen Konzepten beobachten. Die unsägliche HeForShe-Kampagne der UNO zum Beispiel, beruft sich auf das uralte Cliché vom edlen Ritter in schimmernder Rüstung, der heraneilt um sein genauso holdes wie hilfloses Weib aus den Fängen des bösen Drachen zu erretten. Anders als Feministinnen früherer Generationen meinen heutige nämlich nicht, dass sie keinen Mann zum Leben brauchen. Sie glauben, dass sie eine Sonderbehandlung brauchen – und verdienen! Woher dieser plötzliche Sinneswandel?

Analyse

Gehen wir mal naiv da ran und sagen: Feminismus ist ja definiert als eine Bewegung zur Gleichberechtigung und Gleichstellung der Geschlechter. Als solche ist sie ja durchaus mit meinem Gerechtigkeitsgefühl vereinbar. Und Gleichberechtigung heißt – nun ja, eben, dass alle gleich behandelt werden. Wenn der Feminismus also fordert, dass Männer bei allem und jedem Rücksicht auf die Gefühle von Frauen nehmen müssten, dann muss er also das gleiche auch von den Frauen gegenüber den Männern einfordern. Gibt es diese Forderung im Feminismus? Nein, die gibt es nicht. Das lässt jetzt zwei Schlüsse zu: Entweder der Feminismus will gar nicht die Gleichberechtigung der Geschlechter, oder das ist kein Feminismus.

Gleichwohl wird diese Forderung ja als eine feministische Forderung geframed. Dem trage ich dadurch Rechnung, dass ich vom zeitgenössischen Feminismus spreche. Und diesem geht es eben, so habe ich ja gerade gezeigt, nicht um die Gleichbehandlung der Geschlechter, sondern um eine Unterschiedlichbehandlung. Warum sollen Männer auf weibliche Gefühle Rücksicht nehmen, umgekehrt aber nicht? Weil weibliche Gefühle wichtig und wertvoll sind. (Über männliche Gefühle wird dabei nichts gesagt – sie spielen also keine Rolle, sind weniger wichtig, wenn überhaupt.) Wenn aber die Gefühle einer Gruppe wichtiger sind als die einer anderen, dann handelt es sich um eine Überlegenheitsideologie.

Damit ergeben sich natürlich erhebliche Legitimationsprobleme. Denn die gesamte Akzeptanz, die der Feminismus genießt, beruht ja auf seinem Image als einer Bewegung für Gleichberechtigung. Also muss er sich dieses Image unbedingt bewahren. Und das geschieht mit einem cleveren Trick: Man stellt sich als unterdrückte Minderheit da, die eine Sonderbehandlung braucht. Nur damit kann man überhaupt irgendwie begründen, einen Menschen anders zu behandeln als einen anderen. Das Vehikel mit dem das geschieht ist – Trommelwirbel! – die Theorie vom Patriarchat. Mit all ihren Prämissen, Hypothesen und Schlussfolgerungen. Das Patriachat, so wie es in der feministischen Literatur definiert wird, ist eine unsichtbare, mit wenigen, kleinen Ausnahmen weltumspannende Herrschaftsstruktur, die alle Männer bevorteilt und alle Frauen unterdrückt. Einen empirischen Beleg für diese Theorie gibt’s natürlich nicht; Kann es auch gar nicht geben, weil sie nicht falsifizierbar ist und alle Widersprüche so umgedeutet werden, dass sie dann doch wieder irgendwie ins Konzept passen. Und sowas nennt man eine Verschwörungstheorie.

Verschwörungstheorien sind beliebt, wenn es darum geht, die Ungleichbehandlung von Menschen zu legitimieren. Damit lassen sich der gesunde Menschenverstand und sogar Gesetze außer Kraft setzen. Die Nazis haben das gemacht, mit ihrer Theorie von der jüdisch-bolschewistischen Weltverschwörung. Die Sowjets haben das gemacht, mit ihrer Furcht vor der Konterrevolution. Die Amis haben das gemacht, mit ihrer Paranoia vor der kommunistischen Unterwanderung. Alles unbelegbare Verschwörungstheorien, mit denen die Grundrechte von Menschen auf eine gerechte Behandlung außer Kraft gesetzt wurden.

Fazit und Call to Action

Der Punkt, auf den ich hinausmöchte, ist folgender: Ich bin inzwischen der festen Überzeugung, dass all diese komplizierten Theorien, die an unseren Universitäten gelehrt werden und die am Ende alle darauf hinauslaufen, zu begründen, warum es falsch ist, alle Menschen gleich zu behandeln und warum man manche Menschen gleicher behandeln muss als andere, elitäre Flachwichserei sind. Das sind die verschwurbelten Ideen von Menschen mit furchtbaren Minderwertigkeitskomplexen, die glauben, dass sie von der ganzen Welt ungerecht behandelt werden und dass sie ihnen deswegen etwas schuldig ist, und die damit versuchen, ihren Minderwertigkeitskomplexen irgendeine vermeintlich objektive Legitimation zu verschaffen und die anderen davon zu überzeugen, dass sie ihnen wirklich etwas schuldig sind. Und weil diese Theorien so kompliziert sind, dass kein Mensch sie wirklich versteht, müssen sie ja richtig sein. Wer zugibt, sie nicht zu verstehen, der steht als Idiot da. Also wird beeindruckt geguckt und zustimmend genickt.

Ich glaube, dass viele Menschen meinen Eindruck teilen, dass die Linke im Allgemeinen und die SPD im besonderen aufgehört hat, sie zu vertreten und aufgehört hat, an die gleichen Werte zu glauben wie sie. Und ich glaube, dass das der eigentliche Grund für den Niedergang der SPD ist.

Am Ende gibt es nur eine Art, gerecht zu sein. Und das ist genau die Art, die ich eingangs als gesunden Menschenverstand bezeichnet habe. Das versteht jeder intuitiv und es ist universell anwendbar. Es ist wirklich so einfach. Den ganzen Rest, den braucht kein Mensch. Im Gegenteil, der verwirrt uns und sorgt dafür, dass immer mehr Menschen glauben, es wäre gerecht, sich anderen gegenüber ungerecht zu verhalten.
Und weil ich nicht möchte, dass sich dieser gefährliche Unsinn immer weiter verbreitet, unterstütze ich diese Petition, gerichtet an die Universitäten: Suspend Social Justice Courses. Ins Leben gerufen wurde sie vom großartigen Carl Benjamin, alias Sargon of Akkad, der seit Gamergate durch seinen hervorragenden YouTube-Channel bekannt geworden ist. Wahrscheinlich wird die Petition nicht viel bewegen; Aber zum ersten braucht es einmal einen ersten Schritt. Zum zweiten finde ich den Ansatz interessant, die Social Justice Warriors mal mit ihren eigenen Waffen zu bekämpfen. Und zum dritten geht es auch darum, einmal abschätzen zu können, wie groß unsere Bewegung eigentlich ist; wie viele Menschen es gibt, die das kritisch sehen. Da die Teilnahme an der Petition vollkommen kostenlos ist, sollte es uns das wert sein.

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Das Frauenwahlrecht, oder: Eine kleine Geschichte der Diskriminierung

Das allgemeine Frauenwahlrecht wurde in Deutschland nach dem großen Krieg im Jahre 1918 eingeführt. Das weiß eigentlich jeder. Und jeder weiß, dass das viel zu spät war. Jeder weiß, dass dem eine jahrhunderte-, ach was: jahrtausendelange Unterdrückung der Frau durch den Mann vorausging. Und jeder weiß, dass es nur mutigen Frauenrechtlerinnen des Feminismus der Ersten Welle zu verdanken ist, dass sich das dann endlich geändert hat.

Nun, ich möchte deren Bedeutung keineswegs kleinreden. Ich halte den Feminismus der Ersten Welle, oder die Frauenrechtsbewegung, als die ich sie in diesem Zusammenhang lieber bezeichne, für eine absolut wichtige gesellschaftliche Errungenschaft. Ich würde nicht in einer Gesellschaft leben wollen, in der Männer und Frauen unterschiedliche Rechte zugesprochen bekommen, einfach so, qua Geburt. Daher bin ich diesen Frauen – und auch den Männern, wie August Bebel oder Friedrich Lassalle – uneingeschränkt dankbar.

Aber dieses Narrativ, das ich oben beschrieben habe; Nun, an das kann nur glauben, wer über ein anderes Thema wenig weiß; ein Thema, über das denn auch auffallend viel geschwiegen wird. Dabei liegt die Frage doch eigentlich auf der Hand: „Sag mal, wir wissen ja nun, wie das mit dem Frauenwahlrecht war. Aber wie war denn das eigentlich mit dem Allgemeinen Männerwahlrecht?“

Das erste allgemeine Männerwahlrecht in Deutschland wurde 1869 im Norddeutschen Bund unter preußischer Führung eingeführt, ab der Reichsgründung 1871 galt es deutschlandweit. Also keine 50 Jahre, ein Wimpernschlag in der Weltgeschichte, vor dem Frauenwahlrecht. Dies galt aber nur auf Bundesebene; auf föderaler Ebene – die bekanntlich in der deutschen Politik auch eine wichtige Rolle spielt – galten oft weiterhin die vorherigen (ungleichen) Wahlgesetze, so zum Beispiel Pluralwahlrechte, nach denen einige Wähler mehrere Stimmen abgeben konnten, oder das Preußische Dreiklassenwahlrecht. Dieses teilte die Wahlberechtigten (Empfänger öffentlicher Armenvorsorge waren davon z.B. ausgeschlossen) in drei Abteilungen gemäß ihrem Steueraufkommen ein. Die erste Abteilung umfasste die reichsten Bürger, die zusammen ein Drittel des Steueraufkommens ausmachten, die zweite Abteilung die Zahler des zweiten Drittels und der ganze Rest, der nur geringe Steuern zahlte, fand sich in der dritten Abteilung wieder. Jede Abteilung stellte gleich viele Abgeordnete. De Facto sorgte dieses Wahlsystem für eine massive Überrepräsentation einer wohlhabenden Minderheit. In gut einem Zehntel aller Wahlbezirke gab es nur einen einzigen Wähler, der zur ersten Abteilung gehörte und somit allein über den Vertreter seines Bezirks bestimmen konnte. Auch in den restlichen Wahlbezirken gehörten nur selten mehr als eine handvoll Wähler zu dieser Abteilung. Und selbst in der zweiten Abteilung kam es mitunter vor, dass es nur einen einzigen Wähler gab.

Und was wählten diese Wähler dann? Sie wählten die Zweite Kammer des Abgeordnetenhauses, die wiederum der Ersten Kammer untergeordnet war. Anfangs hatte sie lediglich beratende Funktion. Dass sie selbst das Recht hatte, mitzuentscheiden, wurde erst im Laufe der Zeit erreicht. Die Erste Kammer war übrigens dem Adel vorbehalten. Dieses Wahlrecht – übrigens: nicht geheim – galt in Preußen bis 1918.

Wir sehen also: Weder gab es das Allgemeine Männerwahlrecht lange vor dem Frauenwahlrecht, noch hatte es sich vorher vollumfänglich durchgesetzt. Auch einige Männer waren bis 1918 davon ausgeschlossen; und die, die es nicht waren, hatten oft trotzdem kein Wahlrecht, wie wir es heute verstehen: geheim, gleich und unmittelbar.

Natürlich kann man jetzt anführen: Aber immerhin hatten sie doch eins, die meisten zumindest! Und ja, das stimmt. Obwohl das Wahlrecht nicht unseren heutigen Vorstellungen entspricht, war es natürlich ungerecht, die Frauen einfach nur deswegen davon auszuschließen, weil sie Frauen waren. Für die Empfänger der Armenvorsorge gab es ja doch zumindest theoretisch irgendwie die Möglichkeit, zu Einkommen oder Wohlstand zu kommen und damit das Wahlrecht zu erlangen; Anders als heute konnte eine Frau damals aber nicht mal eben zum Mann werden.

Bis jetzt haben wir uns allerdings nur mit dem „was“ der Geschichte beschäftigt – nicht mit dem „wie“ und nicht mit dem „warum“. Doch auch diese sind erhellend.


Bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts gab es in Deutschland überhaupt keine Parlamente. Und es gab auch kein Wahlrecht. Freilich, der Kaiser wurde von den Kurfürsten gewählt; Aber das hat ja nun mit dem, worum es hier geht, so gut wie gar nichts zu tun. Zumal der Kaiser in seiner Funktion als Kaiser auch quasi gar nichts zu sagen hatte; ein Grüßaugust, darin dem heutigen Bundespräsidenten nicht unähnlich.

Was passierte denn also nun am Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts, dass sich das plötzlich änderte? Hier gibt es drei ganz wesentliche Faktoren, die den Lauf der Geschichte in ungeheurem Ausmaß prägten. Ja, es gibt keine andere Periode, die den Lauf der Dinge so nachhaltig änderte wie diese. Ohne jeden Zweifel wäre ohne diese drei Ereignisse heute kaum etwas so, wie es ist:

  1. Die Aufklärung
  2. Die Industrielle Revolution
  3. Die Französische Revolution, und in ihrer Folge: Die Napoleonischen Kriege

Wie die drei zusammenspielten und im einzelnen zur Einführung parlamentarischer Repräsentation führten, würde hier viel zu weit führen und das brauchen wir in diesem Kontext auch nicht allzu genau zu wissen. Daher mache ich es so kurz wie möglich und beschränke mich auf die für unsere Zwecke zentralen Aspekte.

Mit der Industriellen Revolution ging eine zuvor nie dagewesene Urbanisierung einher. Ganze Völkerscharen strömten vom Land in die (teils neu entstehenden) Städte auf der Suche nach Arbeit. Die Geschichte des Ruhrgebiets steht dafür geradezu idealtypisch. Die Städte, die es bis dahin gegeben hatte, waren deutlich kleiner gewesen und verdankten ihre Bedeutung zumeist einem Fürstensitz oder in selteneren Fällen – wie Leipzig oder den Hansestädten – einer unabhängigen, wohlhabenden Klasse von Kaufleuten. Nun entstanden riesige Industriestädte mit einem immensen Bedarf an Arbeitskräften – und allerlei Problemen, die das Zusammenleben vieler Menschen auf kleinem Raum mit sich bringt: Hygiene und Krankheiten, Wasserversorgung und Abwasserentsorgung,  Kriminalität, Verwahrlosung und große Armut usf. Die soziale Frage entstand. Und mit dieser Urbanisierung erfolgte der Eintritt der Massen in die Weltgeschichte.

Bis dahin hatten die Menschen verstreut auf dem Land gelebt. Wer gerade politisch den Hut auf hatte, betraf sie relativ wenig – und sie hatten dabei ja auch nichts zu sagen. Politik war im wesentlichen das Privatvergnügen einer kleinen adeligen Elite. Mit dem Aufkommen neuer sozialer Probleme änderte sich das nun. Und an dieser Stelle kommen, gerade im deutschen Kontext, die Napoleonischen Kriege ins Spiel, insbesondere die Koalitionskriege.

Krieg war immer ein Kontinuum deutscher Geschichte gewesen – und europäischer Geschichte überhaupt. Und natürlich war auch das einfache Volk davon betroffen. In weiten Teilen des Reiches galt die Devise: Der erste Sohn bekommt den Hof, den zweiten bekommt die Kirche, den dritten bekommt der Krieg. Und die soziale Ordnung hat natürlich viel mit dem Erbrecht zu tun; Die feministische Forschung hat nicht unrecht damit, wenn sie betont, dass die Unterdrückung der Frau mit dem Vorzug der Söhne vor den Töchtern zu tun hat. Allerdings war der zweite und spätestens der dritte Sohn dem ersten gegenüber im Grunde genauso benachteiligt wie die Töchter. (Ausgenommen davon ist der Südwesten, wo es üblich war, das Ackerland zu ähnlichen Teilen zwischen den Söhnen aufzuteilen.) Anders als diese hatte er aber nicht die Möglichkeit, einen erbberechtigten Sohn aus anderem Hause zu heiraten. Er musste selbst für sein Auskommen sorgen. Wie gesagt: Die überwältigende Mehrheit der Menschen lebte damals auf dem Land, und dort war das Auskommen ans Land gebunden. Wer kein Land hatte, das er bewirtschaften konnte, der hatte Pech gehabt. Da blieb nur der Eintritt ins Kloster – oder eben in die Armee. Und so fanden sich dort diejenigen wieder, die sonst nichts zu erwarten hatten vom Leben. Somit hatten die Soldaten – abgesehen von der kleinen adeligen Führungselite – ein miserables gesellschaftliches Ansehen. Sold gab es auch keinen, der Soldat erhielt Kost und Logie. Wer zum Militär ging, der war für die Gesellschaft verloren, galt als verroht und unzivilisiert und starb ohnehin früher oder später. Meist nicht den Heldentod auf dem Schlachtfeld – ein Konzept, das ohnehin eher der besagten Führungselite vorbehalten war – sondern einen dreckigen Tod im Schatten der Geschichte. Zu dieser Zeit starb die weit überwiegende Zahl der Soldaten nicht durch feindliche Kugeln, sondern durch Krankheit, unbehandelte Verletzungen und die allgemein katastrophalen hygienischen Zustände. Dies änderte sich erst durch die Gründung des Roten Kreuzes nach der Schlacht von Solferino 1859.

Mit den Koalitionskriegen aber änderte sich die Art der Kriegsführung. Die Heere Napoleons waren mit Abstand die größten, die bis dahin jemals den Kontinent heimgesucht hatten. Ihr militärischer Erfolg war kein Zufall. Um gegen sie zu bestehen, mussten auch die deutschen Staaten massiv aufrüsten. Der Bedarf an Soldaten war enorm. Erstmals wurde daher so etwas wie eine allgemeine Wehrpflicht eingeführt – eine allgemeine männliche Wehrpflicht, versteht sich. Und so waren es in den Koalitionskriegen erstmals nicht mehr nur die Ausgestoßenen und Hoffnungslosen, die ihr Leben für ihren Fürsten gaben. Dies hatte Folgen, die seinerzeit nicht abzusehen gewesen waren. Denn es stellte sich natürlich die Frage: Wenn ich für diesen Staat Leib und Leben riskieren soll und dafür noch nicht einmal einen Sold erhalte – ja, was habe ich denn davon?

Und damit erhielten zwei Ideen Auftrieb, die bis dahin nur gelehrte Gedankenspiele gewesen waren. Zum einen die Idee der Nation – „Wir, die Deutschen, müssen uns, unsere Kultur, unsere Werte gegen die fremden Invasoren verteidigen“ (man vergleiche auch Friedrich Wilhelm II [1914]: „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche!“) – und zum anderen die Idee des Wahlrechts – „Wenn ich schon mein Leben riskieren soll, dann will ich wenigstens mitreden dürfen, wofür ich es riskiere“. Beide Ideen waren letztlich unwiderstehlich.

Und damit kommen wir zurück zum Ausgangsthema. Die Einführung des Wahlrechts ist historisch untrennbar verknüpft mit der Einführung der Wehrpflicht. Nur durch die Wehrpflicht entstand eine Bewegung, die letztlich, nach jahrzehntelangem Kampf, die Einführung des Wahlrechts zur Folge hatte. Und zwar mit der denkbar simplen Begründung: Wer sein Leben für den Staat gibt, der muss auch mitreden dürfen.

Und deswegen war das allgemeine Wahlrecht ein allgemeines Männerwahlrecht: Weil die allgemeine Wehrpflicht eine allgemeine Männerwehrpflicht war. So ungerecht der Ausschluss der Frauen vom Wahlrecht auch erscheinen mag; Er war dermaßen offensichtlich begründet, dass es gar kein Wunder ist, dass sich erst ein paar Jahrzehnte später eine Bewegung formierte, die diese Gründe nicht mehr so genau kannte und darin eine Ungerechtigkeit sah. Gleichwohl gab es auch viele Frauen, die das Frauenwahlrecht ihrerseits ablehnten, weil sie sich der Gründe nämlich sehr wohl bewusst waren. Sie fürchteten – konsequenterweise – dass mit dem Frauenwahlrecht auch eine Frauenwehrpflicht einhergehen würde. Und diesen Handel wollten sie – verständlicherweise – nicht eingehen.


War es also ungerecht, dass die Frauen kein Wahlrecht hatten? Vom heutigen Standpunkt aus betrachtet: sicherlich. Unter Berücksichtigung der Vorzeichen der damaligen Zeit: Ich tendiere zu nein.

In diesem Beitrag habe ich mich ausschließlich mit der deutschen Entwicklung beschäftigt, und meine Aussagen beziehen sich auch nur auf diese. Ähnlich wie in den deutschen Einzelstaaten war beispielsweise das Wahlrecht im Vereinigten Königreich zwar ausschließlich männlich, aber auch an das Vermögen gebunden. So hatten de-facto selbst in diesem Mutterland der modernen Demokratie bis ins frühe 19. Jahrhundert nur etwa 1% der Männer das aktive Wahlrecht. Sukzessive erhöhte sich diese Zahl durch Reformen bis 1918 auf 52% der Männer. Natürlich war der Ausschluss der Frauen ungerecht; Genauso ungerecht war aber der Ausschluss von 48% der Männer. Dieser Teil der Geschichte ist aber heute kaum mehr bekannt. Was die USA anbetrifft, so erinnere ich mich an eine Aussage im Rahmen einer Vorlesung zur Politischen Ideengeschichte der USA, wonach dort bis heute Männer nur dann wahlberechtigt sind, wenn sie sich auch beim Militär eingeschrieben haben, was für Frauen selbstredend nicht gilt. Die Verknüpfung von Wahlrecht und Wehrpflicht wäre dort entsprechend also bis heute vorhanden – zumindest bei Männern. Ich kann dazu aber leider keine Literatur finden, und vielleicht irre ich mich auch und das wurde vor einiger Zeit geändert. Daher möchte ich mich darauf nicht festlegen.

Wie dem auch sei: Auch in Bezug auf andere Länder wäre eine spezifische Betrachtung der Wahlrechtsentwicklung in diesem Kontext sehr spannend. Und ich bin mir sicher, dass man vielerorts, wenn nicht überall, herausfinden würde, dass es nicht so einfach ist, wie es heute oft dargestellt wird.

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Perspektiven auf Geschlecht und Gender – Teil 1: Politische Weltanschauungen

Wir Menschen haben die Angewohnheit, die Welt durch eine bestimmte Brille zu sehen. Normalerweise sind wir uns dieser Brille nicht bewusst. Und wir sind uns nicht bewusst, dass es auch andere Brillen gibt. Wir sind quasi mit unserer Brille verwachsen. Deshalb verstehen wir nicht, warum andere Menschen die Welt anders sehen als wir. Und weil alle Menschen egozentrisch sind, interessiert es uns normalerweise auch nicht besonders. Wir denken vielleicht: „Naja, die anderen haben halt andere Erfahrungen gemacht“, und geben uns damit zufrieden. Das ist natürlich eine zutreffende, aber bei weitem nicht hinreichende Erklärung.

Jeder scheinbar unlösbare Konflikt entsteht aus diesem Unverständnis für und dem Desinteresse an den Hintergründen für die Sichtweise des jeweils anderen. Das gilt für den Nahostkonflikt genau so wie für die aktuelle Flüchtlingsdebatte. Wir haben unsere eigene Sichtweise und umgeben uns mit Menschen, die diese Sichtweise teilen, und bestätigen uns dann gegenseitig. Wenn wir nicht aufpassen, kommen wir schnell an einen Punkt, an dem wir unsere Sichtweie für die „richtige“ und die der anderen für die „falsche“ halten. An beiden Beispielen lässt sich das wunderbar nachverfolgen, und es lässt sich auf jedes beliebige andere anwenden. Und es wird klar, wie aus unterschiedlichen Sichtweisen ein scheinbar unlösbarer Konflikt wird. Die Positionen verhärten sich, der jeweils andere wird von einem Andersdenkenden zum politischen „Feind“. Konstruktiver Dialog und Problemlösung werden unmöglich. Das ist gerade wunderbar daran zu erkennen, wie sich SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegenüber der AfD verhalten: Die Ministerpräsidenten Malu Dreyer und Winfried Kretschmann verweigerten zunächst, an TV-Debatten vor den Landtagswahlen in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg teilzunehmen, wenn auch diese teilnähme. Mittlerweile haben Sie sich dem öffentlichen Druck zwar gebeugt, aber wenn es nach ihnen ginge, dürfte es keinen Dialog geben. Dadurch verschärft sich die Problematik, der Dissens über ein Thema führt zur gesellschaftlichen Spaltung. Und das allein deswegen, weil sich die Konfliktparteien nicht bewusst sind, dass sie die Welt durch eine bestimmte Brille sehen.

Wären sie sich dessen bewusst, dann wüssten sie, dass die Unterschiede nicht daher kommen, dass sie klug und die anderen dumm, dass sie aufgeklärt und die anderen rückständig bzw. naiv, kurz: dass sie gut und die anderen böse sind. Sondern dann wüssten sie, dass die anderen ganz einfach eine andere Brille aufhaben.

Was ich als Brille bezeichnet habe, könnte man auch als Weltanschauung, Menschenbild oder Theorie bezeichnen. Die Zahl der möglichen Brillen ist im Grundsatz recht überschaubar und ihre jeweiligen Stärken und Schwächen lassen sich auch recht gut beschreiben. Jede Brille besteht aus einer Kombination von zwei Filtern. Der erste Filter legt fest, ob ich die Welt individualistisch oder kollektivistisch sehe, der zweite, ob ich sie optimistisch oder pessimistisch sehe. Individualistisch heißt, den Menschen vor allem als eingenständige und eigenverantwortliche Person zu sehen, unabhängig von Geschlecht, Hautfarbe, Religion, Sexualität etc., sondern ihn über seine Handlungen zu beurteilen. Das nennt man auch das meritokratische Prinzip. Kollektivistisch heißt, den Menschen über seine sozialen Zusammenhänge zu begreifen: als kulturell geprägtes Wesen, das durch seine Merkmale bestimmten Gruppen angehört und durch diese Gruppenzugehörigkeit spezifische Erfahrungen macht. Optimistisch heißt, der Zukunft aufgeschlossen gegenüberzustehen und zu erwarten, dass es tendenziell immer besser wird. Pessimistisch heißt, der Zukunft skeptisch gegenüber zu sein und in Veränderungen vor allem die Risiken zu erkennen. Daraus ergeben sich vier Kombinationen.

  1. Kollektivistisch/Optimistisch – Das ist die sozialistische Variante. Jeder Mensch ist Teil einer bestimmten sozialen Klasse und sein Leben wird durch diese Klassenzugehörigkeit geprägt. Herkömmlicherweise unterscheidet man diese Klassen nach ihrem ökonomischen Stand, mittlerweile sind aber weitere Facetten dazugekommen: Auch Frauen und Männer, Heterosexuelle und LGBT-Personen, Schwarze und Weiße, Muttersprachler und Einwanderer und so ziemlich jedes andere Merkmal kann konstituierend für eine Klasse sein. Entscheidend ist dabei der Machtaspekt: Die Klassen haben eine hierarchische Ordnung, sie sind entweder privilegiert oder benachteiligt. Daher müssen Angehörige benachteiligter Gruppen mit Sonderrechten ausgestattet werden, um das Fernziel, die Überwindung der Klassenunterschiede, zu erreichen. Slogan: „Den Sozialismus in seinem Lauf hält weder Ochs‘ noch Esel auf!“
  2. Kollektivistisch/Pessimistisch – Würde man gemeinhin als konservativ bezeichnen, ich schlage aber eine Differenzierung vor. Das konservative Spektrum ist riesig, es reicht von Leuten, die erst einmal die Erahrungsberichte lesen, bevor sie sich ein neues Smartphone zulegen, bis hin zu den Amish-People, die jedes industrielle Erzeugnis ablehnen. Dieses Weltbild hier würde ich als reaktionär bezeichnen. Es geht davon aus, dass Menschen grundlegend verschieden sind und sich über die Zugehörigkeit zu Ethnien und Nationen, Religionen und Geschlechtern bestimmen, dass diese Unterschiede natürlich und richtig sind – in der religiösen Variante: gottgewollt – und dass das Zusammenleben der verschiedenen Gruppen Schwierigkeiten mit sich bringt, die sich kaum überwinden lassen und sieht die Lösung deshalb in größtmöglicher Homogenität. Veränderungen schaffen zunächst einmal Unordnung und stören die Homogenität, daher werden sie grundsätzlich abgelehnt. Eine eigene Agenda gibt es aber nicht; Dieses Weltbild reagiert nur auf Veränderungen, daher ist es reaktionär. Slogan: „Multikulti ist gescheitert!“
  3. Individualistisch/Optimistisch – Idealtypischer Liberalismus. Dieses Weltbild stimmt dem vorherigen in der Analyse zu, dass Menschen traditionellerweise über ihre Gruppenzugehörigkeit bestimmt wurden. Es sieht das aber weder als natürlich noch als richtig an, sondern als Zwangslage, aus der es das Individuum zu befreien sucht. Es tritt für die Abschaffung von gesetzlichen Benachteiligungen ein, setzt bei wirtschaftlichen und sozialen Ungleichheiten aber auf die Eigenverantwortung und den Gestaltungswillen des Individuums. Es glaubt, dass gesetzliche Regelungen diese nur beschneiden und damit zu neuen Zwängen führen würden. Slogan: „Wenn jeder an sich selbst denkt, ist an alle gedacht!“
  4. Individualistisch/Pessimistisch – Auch dieses Weltbild ist konservativ, aber auf eine ganz andere Weise. Es ist das Weltbild der Romantiker. Sein Subjekt ist das Individuum, das zu seiner Umwelt in Relation steht. Es ist aber mit der ständigen Furcht verbunden, dass das Individuum von seiner Umwelt entwurzelt und zu einem namen- und eigenschaftslosen Mitglied der Massengesellschaft wird. In Veränderungen sieht es die Gefahr, dass das Individuelle verloren geht. Insofern ist es fortschrittsskeptisch. Es will aber nicht zurück zu einer imaginierten heilen Welt, sondern sucht seine Freiheit in der Abgrenzung zum Mainstream. Diese erfolgt aber weniger inhaltlich als strukturell; Sie kritisiert ihn nicht für das, was ihn (inhaltlich) ausmacht, sondern dafür, dass er Mainstream ist. Abgesehen davon fällt eine politische Verortung schwer. Ich muss dabei die ganze Zeit an das Gemälde „Der Wanderer über dem Nebelmeer“ von Caspar David Friedrich denken, das zwar in der Zeit der Industrialisierung und Vermassung der Gesellschaft entstand, sich mit dieser aber gar nicht inhaltlich-kritisch auseinandersetzt, sondern die individuelle Naturerfahrung betont und damit sehnsüchtig eine vollkommen unzeitgemäße Lebensweise aufzeigt. Slogan: „Ich bin dann mal weg!“

An dieser Stelle ist eines wichtig: Es gibt keine perfekte Brille. Es gibt keine Brille, mit der wir die Welt genau so erkennen können, wie sie ist. Stattdessen können wir mit jeder Brille unterschiediche Facetten erkennen, während andere unsichtbar werden. Die Lösung für die Probleme ist nicht, gar keine Brille zu tragen. Dann erkennt man gar nichts – und ich bezweifle auch, dass es möglich ist. Die Lösung liegt darin, sich seiner Brille stets bewusst und in der Lage zu sein, auch einmal eine andere Brille aufzusetzen.

Mit dieser Vorbemerkung geht es demnächst weiter mit Teil 2: Warum Maskulismus entweder links oder rechts ist – und warum beides keine Lösung ist.

Ein Kommentar

Homoehe

Über das Konzept der sogenannten Homoehe habe ich schon des Öfteren nachgedacht. Und obwohl mir als Liberalem ziemlich egal ist, wer mit wem glücklich ist, habe ich dabei doch ein wenig Bauchschmerzen. Angestoßen durch den heutigen Comic von Erzählmirnix habe ich mich dazu noch einmal genauer befragt.

Ich hatte den Begriff und das Konzept „Ehe“ so gelernt, dass es die Zusammenkunft zum Zwecke einer „legitimen“ Familiengründung darstellt. Eine gescheiterte oder erfolglose Ehe war dann eine, die kinderlos blieb. In meinem Bekanntenkreis hatte ich einen solchen Fall, wo dann in den 60er Jahren eine Tochter adoptiert wurde, was aber eine gewisse Stigmatisierung mit sich brachte.
Da stellt sich natürlich schon die Frage, inwieweit das überhaupt für homosexuelle Paare eine sinnvolle Perspektive darstellt, da ein solches ja per definitionem keine gemeinsamen Kinder zeugen kann und daher – legt man das geschilderte Konzept zu Grunde – erfolglos bleiben muss.

Das ist jetzt eine sehr traditionelle Definition von Ehe, die heute sicherlich von vielen nicht mehr so angenommen würde. Daraus könnte man zweierlei folgern:

1. Das Konzept der Ehe als solches ist überholt, die Institution kann abgeschafft werden.
2. Das Konzept der Ehe als solches ist überholt, die Institution kann umgeformt und auch auf andere Lebensmodelle (sprich ohne oder ohne eigene/gemeinsame Kinder) ausgeweitet werden.

Obwohl nur noch konservative Leute (wovon es aber gerade im ländlichen Raum viele gibt) von einer „erfolglosen“ Ehe sprechen würden, wenn Kinder ausbleiben, stellt die Zeugung von Kindern doch für die meisten Paare noch so etwas wie das Ziel oder die Vervollkommnung der Ehe dar. Insofern würde ich gar nicht mal unbedingt sagen, dass das Konzept überholt ist; Es wird lediglich nicht mehr so dogmatisch vollzogen wie noch vor ein paar Jahrzehnten.
Daraus ließe sich noch eine dritte Möglichkeit folgern:

3. Das Konzept der Ehe als solches ist nicht überholt, wird aber um zusätzliche alternative Institutionen ergänzt, die auch für andere Lebensmodelle offen sind.

Eine Institution, die an ein Konzept zweckgebunden ist, auf andere Konzepte auszuweiten, ergibt logisch keinen Sinn. Mein Eindruck ist, dass die Zweckgebundenheit bei der Mehrheit der Bevölkerung noch zumindest implizit/unbewusst angenommen wird. Daraus erklärt sich der Widerstand gegen die meines Erachtens derzeit verfolgte vierte Variante:

4. Das Konzept der Ehe als solches ist nicht überholt, dennoch wird die Institution auf andere Lebensmodelle ausgeweitet.

Ich persönlich halte Variante 3 für die sinnvollste. Die Varianten 1 und 2 sind meines Erachtens ausgeschlossen, da das Konzept weder theoretisch noch praktisch überholt ist und deren Vorbedingung damit entfällt. Variante 4 ruft bei vielen – insbesondere konservativen – Menschen Widerstand hervor, der mir angesichts der mit der konzeptuellen Ausdehnung einhergehenden symbolischen Entwertung der Institution verständlich erscheint, wenn man bedenkt, dass die Institution Ehe für Konservative einen zentralen Wert hat.
Variante 3 hat den Vorteil, dass eine solche symbolische Entwertung nicht stattfindet und sich dennoch alternative Modelle entwerfen ließen, die dem rechtlichen Status der Ehe gleichgestellt sind. Das Problem liegt dann eher darin, dass homosexuelle Paare eventuell gerade deswegen heiraten wollen, weil sie auf den symbolischen Wert der Ehe wert legen, der ihnen dann verwehrt bliebe. Es soll ja schließlich auch konservative Homosexuelle geben. Da sie aber auch per definitionem vom (traditionellen) Konzept der Ehe ausgeschlossen sind, wäre das wohl die Wahrheit, der sie ins Gesicht sehen müssen. So oder so wäre eine homosexuelle Ehe immer eine andere als eine heterosexuelle. Also warum dem Kind nicht auch einen anderen Namen geben, wenn gewährleistet ist, dass das nicht mit rechtlicher Schlechterstellung einhergeht?

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Frauen vs Feminismus – Wie kann das denn sein?

Die Huffington Post veröffentlichte einen Beitrag der Heilpädagogin Corinna Knauff (auch auf ihrem Blog nachzulesen), in dem diese die Frage aufwirft, warum sich heute (in ihrer Wahrnehmung) so viele Frauen kritisch mit „dem Feminismus“ auseinandersetzen (Stichwort: Women against Feminism). Ihre These lautet in etwa, dass es sich dabei um eine psychologische Auseinandersetzung der Tochter- mit der Muttergeneration handele. Erstere versuche sich von der zweiteren abzugrenzen, indem sie deren feministische Konzepte ablehnt. Damit gehe eine Anbiederung an Männer einher, das „Feindbild Mann“ wird aus taktischen Zwecken abgelehnt. Ihr zufolge schadeten sie sich damit aber selbst, denn der gesellschaftliche „Feind“ sei eben nicht die Mutter, sondern der Mann.

Die Frage ist natürlich absolut berechtigt: Wieso wenden sich Frauen gegen eine Bewegung, die doch für sie da ist? Auch die These als solche finde ich durchaus interessant, sie hat mich zum Nachdenken angeregt (und zum ersten Blogeintrag seit Dezember: Chapeau!). Schlussendlich komme ich aber zu einem ganz anderen Schluss.

Ich bin psychologisch bewandert genug, um zu wissen: Klar, die Auseinandersetzung mit den eigenen Eltern ist eine der treibenden Kräfte, insbesondere in den Jahren zwischen 20 und 30, und um die geht es ja hier vorwiegend. Insofern schließe ich nicht aus, dass das eine Rolle spielt. Ich denke aber, dass das eher eine Nebenrolle sein dürfte. Warum?

Kurz gesagt: Ich glaube, dass viele junge Frauen den Feminismus eben nicht als eine Bewegung wahrnehmen, die für sie da ist. Und schon gar nicht als eine, die für Gerechtigkeit eintritt. Diese Einschätzung kann auf Knauff nur befremdlich wirken, denn sie scheint mir vom Feminismus der Zweiten Welle auszugehen. Dabei übersieht sie, dass sich die jungen Feminismuskritikerinnen in ihrer Kritik überhaupt nicht auf diesen Feminismus beziehen.

Der Feminismus der Mütter war der Feminismus der Zweiten Welle. Dessen Errungenschaften sind heute eigentlich weitgehend anerkannt, ja sind zur Selbstverständlichkeit geworden. Niemand würde das ernsthaft hinterfragen, auch die Töchter nicht. Ja, sicher, es gibt auch heute noch Kritik am Feminismus einer Alice Schwarzer. Aber doch eher deswegen, weil sie nach wie vor radikaler ist als der Mainstream der 1970er Jahre und auf junge Leute eher wie ein Relikt aus diesen Tagen wirkt. Daran arbeitet sich doch niemand ernsthaft ab. Wenn Carolin Kebekus findet, das Wort Feministin würde „ungebumst“ klingen, dann bezieht sie sich damit auf diese Richtung. Aber das lässt sich kaum als ernsthafte kritische Auseinandersetzung bezeichnen.

Womit sich die jungen Feminismuskritikerinnen – und auch ich – auseinandersetzen, das ist nicht der Feminismus der Mütter, sondern der gegenwärtig vorherrschende Feminimsus der Dritten Welle. Mit dem setzen sich ja auch einige Feministinnen der Zweiten Welle durchaus kritisch auseinander (ich denke da z.B. an eine Cathy Young oder eine Christina Hoff Sommers). Auf viele Menschen, egal ob nun Frauen oder Männer, Töchter oder Mütter, Söhne oder Väter, wirkt der eher wie eine tendenziell totalitäre Ideologie als wie eine Bewegung zur Gleichberechtigung. Auch meine eigene – eigentlich durchaus feministische – Mutter hat sich von diesem Feminismus abgewandt, weil er ihr zu weltfremd und zu radikal ist. Das lässt sich also nicht als Generationenkonflikt lesen, schließlich ist meine Mutter nicht ihre eigene Tochter (gleiches gilt für Young, Hoff Sommers usf.).

Die Errungenschaften der Zweiten Welle sind uns Nachgeborenen so selbstverständlich, dass wir sie gar nicht wahrnehmen. Wir können sie nur noch historisch nachvollziehen, so wie wir den Kampf um Demokratie und Wahlrecht historisch nachvollziehen können, emotionslos, als historische Tatsache. Die Kämpfe der Mütter sind nicht die Kämpfe der heutigen jungen Frauen, die Zeiten haben sich geändert. Das beachtet Knauff nicht, wenn sie diese Auseinandersetzung als Generationenkonflikt versteht. Die heute jungen Frauen haben ihren eigenen Kampf, und das ist der Abwehrkampf gegen den radikalen Genderfeminismus der Dritten Welle, nicht der gegen den Mütter-Feminismus der Zweiten Welle. Es geht darum, die Errungenschaften der Mütter zu bewahren und vor diesem Hintergrund Gleichberechtigung herzustellen, nicht darum, sich mit dem Feinde einzulassen. Denn der Feind kann und soll in einer gleichberechtigten Gesellschaft kein Feind mehr sein, sondern gleichberechtigter Partner. Die Voraussetzungen dafür haben die Mütter geschaffen. Knauff unterschätzt diesen Erfolg, sie sieht ihr Geschlecht noch immer in einem Kampf, den es tatsächlich längst gewonnen hat. Die Mütter haben das Ziel weitgehend erreicht. Den Frauen stehen heute alle Türen offen. Das heißt natürlich nicht, dass sie auch durch alle Türen gehen können, und das scheint mir der springende Punkt zu sein.

Die Feminismuskritikerinnen haben erkannt, dass sie zwar durch jede Tür gehen können, aber eine Entscheidung für die eine Tür immer auch eine Entscheidung gegen eine andere ist. Es ist ohne weiteres möglich, Karriere zu machen, viel Geld zu verdienen usw. Die Belege sind klar, Frauen unter 30 ohne Kinder verdienen durchschnittlich mehr als Männer unter 30, und von den unter 30-jährigen sprechen wir ja hier.
Will ich aber Kinder, dann ist das eine andere Tür, und dann schließt sich die Karrieretür – dann ist eine bruchlose Erwerbskarriere kaum mehr möglich. Was der heutige Feminismus versucht, ist, den Frauen zu ermöglichen, gleichzeitig durch entgegengesetzte Türen zu gehen. Dieser Versuch ist zum Scheitern verurteilt.

Das Problem haben Männer so nicht. Aber sie haben dafür ein anderes Problem, das Frauen wiederum nicht haben. Ich persönlich wäre sehr dafür, das Patriarchat abzuschaffen, denn ich würde liebend gerne sagen: Ich brauche kein großes Einkommen. Ich würde gerne eine akademische Karriere einschlagen, eine hoch prekäre Angelegenheit. Bis 40 lässt sich da mit Stipendien und Lehraufträgen mal gerade genug Geld zum eigenen Überleben verdienen. Immer mit befristeten Verträgen und dem ständigen Risiko, nicht verlängert zu werden. Und dem Risiko des Karriereendes, bevor diese überhaupt so richtig angefangen hat.

Das kann ich auch so machen. Das Problem ist nur: Damit würde sich für mich auch eine Tür schließen. Familie wäre dann kaum drin, denn von mir als Mann wird erwartet, dass ich mich im Beruf reinhaue und genug Geld erwirtschafte, um die auch zu finanzieren. Familie ist ja ‘ne kostspielige Angelegenheit. Für Männer heißt es also auch: Entweder oder. Entweder den Geldjob plus Familie oder Selbstverwirklichung ohne Familie. Eine Frau zu finden, die sagt: Mach ruhig, ich verdiene genug für uns und gehe auch gerne direkt nach der Geburt wieder arbeiten, ist wie ein Sechser im Lotto. Habe ich noch nicht kennengelernt.

Also heißt es: Scheiß drauf, suche ich mir halt einen besser bezahlten aber uninteressanteren Job, Familie ist mir wichtiger.

So ist das Leben. Man muss sich entscheiden, es geht nicht alles auf einmal. Das gilt für Männer genau so wie für Frauen. Wer aber immer noch mit der ollen Kamelle vom “Patriarchat” daherkommt und alles Übel bei den Männern sucht, der macht es sich doch sehr einfach und weigert sich, Verantwortung für sich selbst zu übernehmen. Und ich habe den Eindruck, das sehen die beschriebenen jungen Frauen so. Die haben erkannt, dass sie zwar alles, aber nicht jedes haben können und dass das auch nicht ungerecht, sondern ein ganz natürliches Problem ist, das alle Menschen haben.

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Prostitution, oder: In was für einer Gesellschaft wollen wir leben?

Momentan scheint so langsam wieder die alljährliche Prostitutionsdebatte in Schwung zu kommen. So veröffentlichte die Welt heute ein Interview mit einer Frauenrechtlerin und Ordensschwester, wobei ich fast dazu tendiere, die Funktion der Ordensschwester an erste Stelle zu setzen, denn dadurch wird ihre Haltung eher charakterisiert.

Und die Gegenposition lässt auch nicht lange auf sich warten, Don Alphonso veröffentlicht auf seinem Blog bei der FAZ einen Gastbeitrag einer Prostituierten.

Ich selbst bin da hin und her gerissen. Einerseits bin ich Romantiker, und als solchem gefällt es mir nicht, dass man (und meistens Mann) sich dazu gezwungen sieht, Geld für die Befriedigung von Bedürfnissen bezahlen zu müssen, die man doch eigentlich in gegenseitigem Einvernehmen und zur beiderseitigen Freude gemeinsam ausleben sollte. Und oftmals, das ist immer wieder zu lesen, geht es vielen Freiern ja gar nicht so sehr um Sex, sondern ganz grundsätzlich um das Gefühl des Angenommenseins, das sie sich dann eben für Geld geben lassen. Das ist doch eigentlich traurig.

Andererseits bin ich auch Liberaler und sage: Wenn es einen Markt gibt, mit einer Nachfrage und jemandem der bereit ist, diese Nachfrage zu einem bestimmten Preis zu befriedigen, dann ist es nicht mein Bier, mich darin einzumischen.

Ich bin ja auch immer noch ein bisschen links, und daher ist für mich auch wichtig, dass es einen Staat gibt, der Gesetze zum Schutz vor Ausbeutung erlässt. Menschenhandel ist furchtbar, ich denke, darüber brauchen wir nicht diskutieren. Auch der Jugendschutz ist ein absolutes Gut. Und natürlich muss der Staat in der Lage sein, die Einhaltung dieser Gesetze auch zu gewährleisten.

Und schließlich bin ich auch Realist, und als solcher erkenne ich an, dass es nunmal leider so ist, dass viele Menschen im Bereich des Sexuellen Bedürfnisse haben, die unbefriedigt bleiben müssten, wenn es keine Prostitution gäbe. Das ist bedauernswert, aber es ist nunmal so. Ich bin auch Realist genug, anzuerkennen, dass es in diesem Wirtschaftszweig sicherlich Probleme geben wird. Es stehen sich da beide Seiten ziemlich unversöhnlich gegenüber. Die eine sagt: Es gibt keine Sexarbeit, das ist Zwangsarbeit. Die andere sagt: Alles kein Problem. Mir kommen beide Positionen ziemlich simplifizierend vor. Die Wahrheit liegt wahrscheinlich irgendwo in der Mitte. Und ich erkenne auch an, dass das mit der Kontrolle und der Einhaltung der Gesetze in der Praxis alles nicht so einfach ist. Kurz: Ich bin unentschieden.

Diese Debatte wird, das erkennt hier wahrscheinnlich jeder so, hochgradig hysterisch geführt. Es gibt nur schwarz und weß, richtig und falsch, und die jeweils andere Seite ist des Teufels. Warum ist das eigentlich so?

Mein Eindruck ist, dass sich an dieser Debatte eine Grundfrage entzündet, nämlich: In was für einer Gesellschaft wollen wir leben? Die Prostitutionsdebatte ist ein Stellvertreterkrieg, und deswegen wird sie so erbittert geführt.

Wollen wir in einer liberalen Gesellschaft leben, in der das Individuum im Mittelpunkt steht und seine persönliche Freiheit, das zu tun, was es gerade für gut und richtig hält – inklusive der Freiheit, eigene Fehler zu machen und dafür niemanden als sich selbst verantwortlich machen zu können – die entsprechend notwendigerweise tolerant ist, in der es unzählbar viele Arten von Lebensweisen nebeneinander gibt, die aber auch für viele Menschen verunsichernd sein kann, in der viele das Gefühl haben, alles ausleben zu müssen, nichts verpassen zu dürfen, kurz: die viele überfordert und in der das Sicherheitsbedürfnis auf der Strecke bleiben könnte, in der es an verbindendem fehlt?

Oder wollen wir in einer Gesellschaft leben, die sich über gemeinsame Werte definiert, in der jeder weiß, wo sein Platz ist, die Sicherheit und Gemütlichkeit bietet, in der diese kollektiven Werte aber auch die Grenzen für individuelles Handeln setzen und in der Andersartigkeit permanent der Gefahr der Stigmatisierung und Ausgrenzung ausgesetzt ist, die für Andersdenkende und Minderheiten eine permanente Bedrohung darstellt?

Ich kann beiden Ideen etwas abgewinnen, aber beide, zum Extremen geführt, machen mir auch Angst. Müsste ich mich entscheiden, wäre mir die erste Variante dann aber doch lieber.

Was mich jetzt an dieser ganzen Debatte fortwährend irritiert, ist ein innerer Widerspruch des Feminismus, der in ihr zu Tage tritt. So wird aus dieser Richtung einerseits Diversität gefeiert, was einer liberalen Position recht nahe kommt, wenn ich auch manchmal den Eindruck habe, es wird übertrieben. In einer liberalen Gesellschaft werden nicht bestimmte Lebensmodelle gefeiert und andere nicht, da existieren alle gleichwertig nebeneinander. Andererseits zeigt sich dann aber an Beispielen wie eben der Prostitutionsdebatte, dass man doch eher eine Gesellschaft der zweiten Art anstrebt – und zwar nach den eigenen Werten, versteht sich. Die eigenen Werte sollen zu kollektiven erhoben werden, die dann die Grundlage und die Grenzen gesellschaftlichen Zusammenlebens bilden sollen.

Hier zeigt sich, dass das Befürworten von Diversität ein Scheinargument ist. Diversität wird dann gutgeheißen, solange eigene Positionen sich darunter versammeln können. Andere ausgegrenzte Positionen sind davon keineswegs betroffen, wie sich in dieser Debatte sehr anschaulich zeigt. Mit der Diversität sind nicht diejenigen Leute gemeint, die Sex gegen Geld anbieten, es sind auch nicht die Leute gemeint, die gerne für Geld ihre Vorlieben ausleben, obwohl auch diese gesellschaftlich stigmatisiert sind. Das sollen sie bitteschön auch bleiben, ja, man will sogar nocht weiter gehen und sie sogar unter Strafe stellen. Liberalität sieht anders aus.

Ich tue mich ein bisschen schwer damit, von Totalitarität zu sprechen, denn auch ein extremer Liberalismus kann totalitär sein. Aber auch eine Gesellschaft unter dem Diktat eines bestimmten Wertesystems kann totalitär sein, dafür gibt es zahllose historische Beispiele. Vielleicht würden wir gut daran tun, uns an einen Wert, der in der Bibel wie der antiken Philosophie eine Grundtugend darstellte, zu erinnern: die Mäßigung.

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Gendergerechte Sprache – Die nachdenkliche Position

Die FAZ veröffentlichte heute einen eher so mittelmäßig starken Artikel über Lann Hornscheidt und das sog. feministische Sprachhandeln, bzw. die Anfeindungen, denen die Person im Internet ausgesetzt ist.

Auf die Anfeindungen aus dem Netz gehe ich mal nicht ein, denn das halte ich für eine Konstante, die sich durch die Netzgesellschaft erklären lässt, nicht durch das Thema, um das es geht. Nicht, dass ich das gut finde, aber ich halte es für wohlfeil, ausgerechnet dann, wenn es um Gender geht, darauf hinzuweisen. Ich warte immer noch auf das YouTube-Video, in dessen Kommentarstrang sich keine Diskussion über Hitler, die USA und Israel entwickelt. Insofern ist es natürlich unterhaltsam, die Diskussion nachzuzeichnen, bringt aber keinerlei Erkenntnisfortschritt.

Stattdessen möchte ich nur mal meine Meinung zum sog. feministischen Sprachhandeln loswerden, denn auch, wenn das Thema ja schon seit geraumer Zeit durch’s Netz wabert, habe ich die darin noch nicht wiedergefunden. Und was ein richtiger geschlechterpolitischer Blog sein will, muss dazu ja auch irgendwann mal Position beziehen.

„Der Grund dafür, erfährt man, wenn man ein bisschen googelt, ist, dass Hornscheidt sich weder als Mann noch als Frau fühlt, es dafür aber im Deutschen keine Form gibt, weswegen dieser Artikel echt nicht leicht zu schreiben ist.“

Das ist natürlich ein nachvollziehbares Problem, und ich frage mich: Warum so komische Sprachregeln erfinden, wenn die Lösung doch so naheliegend ist? Anstatt, dass man jetzt unzählbar viele Geni einführt, kann man doch einfach eins für alle nehmen.
Das ist übrigens eine ganz und gar unkreative, weil über lange Zeit erprobte Lösung:
Bis weit in die 1970er Jahre ging man davon aus, dass Professor, Lehrer, Bürgermeister etc. geschlechtsunabhängige Berufe seien. So bestand die erste Landrätin Niedersachsens, Hertha Peters, die zufällig in meinem Heimatlandkreis wirkte, auf die Anrede „Frau Landrat“.
Das ergibt auch durchaus Sinn, denn: Landrat ist wie Professor eine Funktion. Eine Funktion hat aber kein Geschlecht. Es ist vollkommen wurscht, ob das nun eine Frau ist, ein Mann, Katholik, Protestant, Sozialist, Nazi: Es ist eine Funktion, die quasi unendlich viele mögliche Ausformungen annehmen kann. Bevor man also für jede denkbare Ausformung eigene Sprachregeln aufstellt und damit die Sprache unendlich kompliziert macht, fasst man halt alles unter einer zusammen. Das war so pragmatisch.

Bis dann irgendwann jemand im Schulunterricht nicht mehr aufgepasst und Funktion und Geschlecht verwechselt hat und folgerichtig meinte, durch diese Bezeichnung würden Frauen unsichtbar gemacht. Nun, das ist richtig, wenn man davon ausgeht, dass eine Bezeichnung, unter der sich bis dato vor allem Männer versammelt hatten, nur Männer bezeichne. Nach derselben Logik müsste man aber auch schließen, sie würde Kleinwüchsige, Buddhisten, Kinder und Kanalarbeiter unsichtbar machen. Das generische Maskulinum und das biologische Maskulinum waren aber nie dasselbe, das sind zwei vollkommen unabhängig voneinander existierende Phänomene. Und das wäre auch immer noch so, wenn man mal in der Schule aufgepasst hätte.

Und jetzt wird die Lösung des Problems selbst zum Problem. Die Revolution frisst ihre Kinder.

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Woher die Scheuklappen?

Die Diskussion mit LoMi auf dem Blog Geschlechterallerlei hat mich auf einen interessanten Punkt gebracht:

Warum wird eigentlich die Unterdrückung bzw. Benachteiligung von Frauen in der Gesellschaft im politischen Diskurs weitgehend unhinterfragt angenommen und warum wehren sich auch Männer nicht dagegen, wenn diese Annahme zu einer Politik führt, die ihren persönlichen Interessen zuwiderläuft? Es scheint da eine Art „höherer Moral“ zu geben, die dem Eintreten für Fraueninteressen zugrundeliegt. Auf diese Annahme bezieht sich mein Beitrag, den ich hier in fast voller Länge zitiere.

»Zunächst könnte man ja annehmen: Das scheint so, weil es so ist. Das müsste natürlich genauer begründet werden, denn nichts ist einfach aus sich heraus moralisch, so wie nichts aus sich heraus a-moralisch ist.

Moralität scheint mir zunächst etwas sozial konstruiertes zu sein. Es gab Zeiten, in denen es als a-moralisch galt, einem Sklaven die Freiheit zu schenken. Heute gilt Sklaverei als solche als a-moralisch.

Wie also lässt sich begründen, dass das Eintreten für Fraueninteressen von vornherein moralisch sei? Nun, wir stimmen wohl darin überein, dass es nach westlich-liberalen Vorstellungen moralisch ist, für jemanden einzutreten, der unterdrückt wird und deshalb nicht selbst für seine Rechte eintreten kann. Historische Beispiele wären der Kampf gegen die Sklaverei in den USA oder das heimliche Verstecken von Juden im NS.

Selbst radikale Feministinnen würden aber wohl kaum behaupten, dass die Unterdrückung der Frauen, die sie annehmen, so weit geht. Figuren wie Alice Schwarzer, Bascha Mika oder Luise Pusch belegen, dass Frauen selbst für ihre Interessen eintreten können. Sie werden damit zwar in einer bestimmten Richtung verortet, aber das an sich ist nichts ungewöhnliches; Auch, wenn ich mich beispielsweise für die Erhaltung spätgotischer Kirchengebäude einsetze, werde ich in einer bestimmten Richtung verortet, ohne dass dies ein Beleg für die Unterdrückung spätgotischer Kirchengebäude wäre. Entscheidend ist, dass sie dies seit vielen Jahrzehnten tun, ohne staatlichen oder sonstigen Repressionen ausgesetzt zu sein. Dass es Anfeindungen aus Teilen der Zivilgeselschaft gibt, ist in einer pluralistischen Gesellschaft kein Beleg für Unterdrückung; Ich verweise wieder auf das hypothetische Engagement für spätgotische Kirchengebäude, mit dem ich andere Religionsangehörige, Atheisten oder Interessenten an dem Baugrund gegen mich aufbringen könnte. Man kann in einer pluralistischen Gesellschaft nicht erwarten, jeden auf seine Seite zu bringen, das wäre gleichsam ihr Ende.

Wie also wird die Unterdrückung dann begründet? Nun, wir kennen die statistischen Argumente vom Gender-Pay-Gap, von den Zahlenverhältnissen in Unternehmensvorständen usw. und kennen auch die Gegenposition zu diesen Zahlen. Wir wissen auch, dass die Zahlen zwar eine Ungleichverteilung, aber noch keine Ungerechtigkeit erklären und schon gar keine Unterdrückung. Und ich für meinen Teil traue den meisten Politikern und Medienschaffenden auch durchaus zu, dazwischen zu unterscheiden.

Es gibt verschiedene Belege, die darüber hinaus eine Ungerechtigkeit nahelegen, aber auch solche, die als Gegenbeleg herangezogen werden könnten; ein eindeutiges Bild ergibt sich nicht. Eindeutigkeit kann man darin nur sehen, wenn man sie sehen möchte und anderes systematisch ausblendet. Genau das scheint zu passieren.

Es stellt sich dann die Frage: Warum passiert das? Und damit sind wir wieder am Anfang. Die Moralität aus sich heraus konnte nicht gefunden werden, denn was sollte moralisch daran sein, jemanden permanent zu bevorzugen, der definitiv kein klares Opfer von Unterdrückung ist und dessen Benachteiligung unklar ist? Freilich könnte man Schritte unternehmen, Ungleichheiten zu beseitigen, aber darüber geht die aktuell wirksame Politik ja zunehmend hinaus, während der institutionalisierte Widerstand dagegen (also das, was früher bspw. konservative Parteien getan haben) immer stärker nachlässt.

Ich sehe hier keine Moralität am Werk, nichts, was vermeintlich außerhalb des Menschen liegen würde, sondern eher Sozialpsychologie. Zum einen gibt es wohl keine Generation zuvor, die so sehr in dem Bewusstsein der historischen Stellung und Benachteiligung von Frauen aufgewachsen ist, als diejenige, die derzeit an den gesellschaftlichen Schlüsselpositionen sitzt; dieses Bewusstsein schlägt sich nieder, und auch wenn die Realität inzwischen eine andere ist, wirkt das Bewusstsein nach wie vor so, dass es bestehende Benachteiligungen abbauen will und Benachteiligungen von Männern nicht sieht. Deswegen ist es gut, dass jede Generation einmal abtritt, denn jede Generation wächst in einem anderen Bewusstsein auf. Damit, dass die soziale Welt sich permanent beschleunigt, kann das Bewusstsein aber immer weniger mit der Realität schritthalten, was ein spezifisches Problem der Postmoderne ist.

Zum anderen scheint mir hier ein Fall von ‚benevolent sexism‘ vorzuliegen, der vom real existierenden Feminismus selbst reproduziert wird, weil er auch an diesen appelliert. Das ist der Grund, warum so viele Männer dabei scheinbar bereitwillig mitmachen. Der Mann lernt von kleinauf, für Frauen da zu sein. Sei es nun das klassische Gentleman-Verhalten, also der Frau die Tür aufzuhalten, ihre Jacke zu nehmen etc., seien es die Errungenschaften der sexuellen Revolution, beim Sex auf die Frau einzugehen (und dabei ganz selbstverständlich davon auszugehen, dass der Mann sowieso auf seine Kosten kommt), sei es das Verteidigen der Ehre der eigenen Mutter (das verschieden aussehen kann; das Wort Hurensohn galt früher und auch heute noch gerade im islamischen Bereich als eine der denkbar schlimmsten Beleidigungen, weil es eben die Ehre der Mutter beschmutzt; oder in der Form der alleinerziehenden Mutter, die den Sohn damit zur Waffe gegen den Vater macht) oder sei es die ganz klassische Erwartung an den Mann, Karriere machen zu müssen, um damit einmal Frau und Kinder ernähren zu können.

An diese Muster des benevolent sexism knüpfen Quoten- und Schutzraum-Diskurse nahtlos an. Sie machen sich den durch weibliche Bezugspersonen geprägten Sexismus der Männer zu Nutze, um diese vor den eigenen Karren zu spannen.

Dieser benevolent sexism ist es, keine überlegene Moral, der eine Versachlichung der Debatte unmöglich macht.«

Der Grund für dieses ausführliche Selbstzitat ist, hier eine gesonderte Debatte über diesen Einzelaspekt zu ermöglichen.

Ein Kommentar

Worüber definieren sich Männer?

Die FAZ veröffentlichte heute einen Artikel mit dem Titel „Der gestresste Mann„, in dem es um fehlende Aufmerksamkeit für Männer und ihre Probleme, insbesondere in der Arbeitswelt geht. Soweit nicht viel neues und zum größten Teil geht er auch an den eigentlich interessanten Fragen vorbei. Männer empfinden Leistungsdruck anders als Frauen und haben kein Gespür für die eigene Überforderung. Nichts neues.

Einen Aspekt finde ich allerdings höchst spannend:
„Vor allem Männer selbst weichen dem Problem aber aus, solange sie können, hängen noch oft an einem Rollenbild, geprägt von Stärke, Unermüdlichkeit, Erfolg und Versorgerfähigkeit.“

Das wirft doch eine ganz wichtige Frage auf: Worüber definieren wir uns, nicht als Männer generell, sondern als Individuen, und gibt es da Gemeinsamkeiten zwischen Männern? Wir brauchen eine Debatte darüber, worüber wir uns tatsächlich definieren und worüber wir uns definieren wollen.

Mein Eindruck ist: Die Aussage im Artikel geht in die richtige Richtung. Männer definieren sich mehrheitlich als Instrumente: Instrumente, die unermüdlich und stark sein müssen um als Versorger zu funktionieren. Das ist keine Definition, die uns selbst dient, sondern eine, die anderen dienen will.

Das funktioniert vielleicht solange, wie unsere Instrumentatlität wertgeschätzt wird. Das wird sie aber heute immer weniger. Wir brauchen eine andere Selbstdefinition. Mein Eindruck ist, dass diese Tatsache von immer mehr Männern erkannt wird, und dass ihr die allermeisten Männer aber mit Angst begegnen und sie eigentlich gar nicht wahrhaben wollen. Sie laufen davor davon, was wiederum zu psychischer Belastung führt. Darin können wir aber auch eine große Chance sehen!

Ich selbst sehe es für mich auch: Ich definiere mich stark über meinen Erfolg an der Universität. Eine präzise Wortwahl, eine gute Arbeit, gute Noten, in der Diskussion zu glänzen, das ist es, was mir ein Gefühl der Stärke und der Bedeutsamkeit verleiht. Gleichsam empfinde ich ein Gefühl von Wertlosigkeit, wenn ich anerkennen muss, dass ich keinen ausgefeilten Plan für meine berufliche Zukunft habe. Dahinter steht das Dispositiv, mit meiner Leistung für andere sorgen können zu müssen und die Angst, das eben nicht zu können.

Worüber können wir uns alternativ – oder auch ergänzend – definieren? Welche Selbstdefinition kann für Männer – gerade heute – erfüllender sein? Darüber brauchen wir eine Debatte!

Worüber definiert ihr euch, und was für Ideen habt ihr zu dieser Frage? Das würde mich wirklich interessieren!

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